Wir alle kennen die Schlangen vor den Luxusboutiquen in den Innenstädten der Metropolen. Mitunter fragt man sich, wieso Konsumenten zigtausende Euro für High-End-Produkte ausgeben und dann in der kalten Jahreszeit auch noch freiwillig dafür frieren. Verknappung ist das Stichwort, ein Marktprozess der uns allen geläufig ist. Irgendwie drängt sich mir jedes Mal der Vergleich mit dem derzeitigen „Bewerbermangel“ auf. Unternehmen zahlen zigtausende Euro für Arbeitskräfte und müssen sich auch noch den Unwägbarkeiten der langen Suche aussetzen. Dahinter steckt derselbe Marktmechanismus. Und nichtsdestotrotz sind wir täglich damit konfrontiert, dass hochintelligente, wirtschaftlich versierte Führungskräfte diese Marktkräfte versuchen, gekonnt zu ignorieren und an den Verhältnissen vergangener Zyklen des Arbeitsmarktes festzuhalten.
„Da versucht der Schwanz mit dem Hund zu wedeln!“
Diese Aussage eines Unternehmensinhabers bleibt mir im Gedächtnis, denn de facto lassen Kandidaten potentielle Arbeitgeber tatsächlich oft zappeln. Die Gretchenfrage, wie man damit umgeht, ist eine sehr komplexe und tangiert neben dem wirtschaftlichen Gedanken sehr oft auch persönliche Emotionen und ist stark von eigenen Erfahrungen und der Sozialisierung geprägt. Neben jenen Entscheidern, die ihre eigenen Bewerbungsprozesse in Erinnerung rufen und auf dem „wer zahlt schafft an“-Modell beharren, gibt es sehr viele Leader, die ihren eigenen Befindlichkeiten nicht so viel Beachtung schenken und das Verhältnis Arbeitgeber vs. Kandidat nicht als Match, sondern tatsächlich als wirtschaftlichen Faktor betrachten, nüchtern und mit der nötigen Demut. Denn ein humanistischer Ansatz an das Thema Arbeit per se erhöht in vielen Begegnungen ungemein die Chance, das Gegenüber von einer erfolgreichen Zusammenarbeit zu überzeugen.
Betrachtet man isoliert den wirtschaftlichen Ansatz, haben wir es mit mehreren Entwicklungen zu tun:
In vielen Berufsfeldern eignet sich die Messgröße des „Stundenlohns“ einfach so gar nicht mehr um darzustellen, ob eine Personalentscheidung gerechtfertigt ist. Nicht nur Vertrauensarbeitszeit, Remote Working, Cultural Contribution und andere Faktoren spielen mit. Auch das Verhältnis zwischen zeitlichem Input und qualitativem Output ist kaum darstellbar. Also verabschieden wir uns im Recruiting bitte davon und öffnen uns für Arbeitszeitmodelle, die es wahrscheinlicher machen, High Performer an Bord zu holen.
Die Frage, ob man gewisse Personalbudgets am Markt durchsetzen kann, stellt sich bei immer mehr Schlüsselfunktionen nicht mehr, denn sie sind eine „conditio sine qua non“. Selbst astronomisch anmutende Gehälter machen Sinn, wenn die Alternative der Shutdown einzelner Unternehmensbereiche ist.
Der Gedanke, das Stellenangebot als Produkt zu sehen, das in seiner Marktperzeption attraktiv sein muss um leistungsfähige Interessenten anzuziehen, wirkt zwar oft wie eine „Umkehrung der Verhältnisse“ – dies aber nur, wenn man an alten Mustern festhält. Die Realität zu ignorieren, bringt handfeste Nachteile in puncto Produktivität, Unternehmensentwicklung und Marktposition. Somit macht es im Umkehrschluss Sinn, alle Facetten dieses „Produktes“ laufend zu überprüfen und anzupassen, um konkurrenzfähig zu sein.
Der Zyklus zwischen Erstkontakt und Entscheidung zu einer Zusammenarbeit wird bei Kandidaten länger und muss gleichzeitig unternehmensseitig verkürzt werden. Das bedeutet auch, dass Unternehmen im Recruiting-Prozess in Vorleistung gehen und schlussendlich trotzdem Absagen kassieren. In solchen Situationen ist es immens wichtig, das eigene Ego hintanzustellen und den Prozess als Chance für langfristiges Branding und das Feedback als Optimierungsanleitung zu sehen.
Heißt das nun, dass Unternehmen sich alles gefallen lassen müssen? Nein, natürlich nicht. Denn es gibt eben auch Trittbrettfahrer, die im Strom des Arbeitskräftemangels ihre Verhandlungsposition überstrapazieren. Klare Red Flags festzulegen, ist absolut legitim und notwendig. Diese sollten aber vor allem im persönlichen Bereich liegen – Identifikation, Augenhöhe, Teamorientierung, Verantwortungsgefühl und kulturelle Offenheit sind genauso wichtig wie berufliche Erfahrung oder „technisches“ Know-how. Wenn diese Werte stimmen, lassen sich die „harten“ Parameter oft weit verschieben und der Output ist nach wie vor ein für beide Seiten langfristig positiver.
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