Irren ist menschlich. Und wie steht's mit Recruitern?
Wie belastbar ist die Einschätzung geübter Recruiting Professionals in Bezug auf zentrale Persönlichkeitsmerkmale? Und: Wie sicher korreliert der positive Outcome der Evaluierung relevanter Kandidaten mit der Performance der späteren Mitarbeiter? Ist es nicht genau diese Sicherheit, die Unternehmen sich insb. von einem Personalberater erwarten?
Erstens: Es kommt drauf an.
Externe Marktfaktoren spielen eine maßgebliche Rolle. Das verfügbare Kandidatenspektrum entscheidet über das Relevant Set. Das Relevant Set wiederum entscheidet zwar nicht über die Einschätzung individueller Kandidaten, beeinflusst aber sehr wohl, unter welchen Risiken eine Personalentscheidung getroffen wird. Je mehr Risiko, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer Diskrepanz zwischen Schein und Sein.
Zweitens: Es kommt darauf an.
Keine Wahrheit ist universell und 100% Objektivität muss zwangsläufig ein Trugschluss sein. Für die Erfüllung der Performance wesentliche Merkmale wie Motivation, Loyalität, Integrationskraft, Begeisterungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein etc. sind in ihrer Ausprägung im Wesentlichen eine Momentaufnahme. Die Qualität des (Pre-)Onboardings, der Einarbeitung und im weiteren Verlauf der Integration neuer Mitarbeiter in ein Unternehmen sowie negative Schlüsselerlebnisse während dieser Phasen können unvorhersehbare und trotzdem plausible Änderungen in der persönlichen Einstellung bewirken. Auch private Krisen oder eine Änderung der Lebensumstände haben – auch bei hoher Resilienz – potentiell enorme Auswirkungen auf die Leistung(sbereitschaft).
Drittens: Es kommt darauf an.
Die Timeline, Budgetvorgaben, die Compliance sowie spezifische Restriktionen im Auswahlprozess sind entscheidende Faktoren für die Qualität eines Evaluierungs- und Auswahlprozesses. Der in der Theorie perfekt designte Auswahlprozess findet so de facto nie statt.
Und das Wichtigste: Wir sollten in unserer Branche das Bewusstsein hochhalten, dass selbst nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführte Evaluierungen genügend Raum für Fehler bieten. Nicht zuletzt, weil es schwierig bis unmöglich ist, Menschen auf Basis relativ kurzer Begegnungen umfänglich einzuschätzen bzw. zu bewerten. Daher arbeiten wir mit Risikoabwägungen, versuchen in Szenarien zu denken und empfehlen Kandidaten kaum ohne Einschränkungen.
Die tägliche Gratwanderung
How hard can you go?
Die Inquisition liegt lange hinter uns und der zurückgelehnte Personaler hat im War for Talents auch keine Hochkonjunktur. Eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Kandidat und Personalentscheider ist sinnvoll. In ihrer Zuspitzung führt zu viel Vorsicht aber zu einem massiven Problem: Recruiter vermeiden faire – ja, manchmal notwendige, harte Fragestellungen – immer öfter aus Angst, Kandidaten zu verlieren, die den Weg des geringsten Widerstandes gehen und aus mehreren Angeboten wählen können. Es ist daher eine tägliche Detailarbeit und erfordert Kommunikationsstärke und Fingerspitzengefühl, valide Informationen mit einem konstruktiven Ansatz zu erhalten, der gleichzeitig die Compliance der Kandidaten mit dem Prozess sicherstellt.
Touchpoints
Aus meinen unzähligen Interviews habe ich die Erfahrung mitgenommen, dass eine höhere Anzahl an unterschiedlichen Touchpoints besonders zu einem klareren Bild beiträgt. In der Zusammenschau aus schriftlicher, telefonischer und persönlicher Kommunikation sowie dem Verhalten von Kandidaten in unterschiedlichen Settings folgt ein Erkenntnisgewinn, der bei einem einzelnen, langen Interview oft verborgen bleibt. Dazu zählen nicht nur der Inhalt sondern auch die Art der Kommunikation (Höflichkeit, Dienstleistungsorientierung, Kurzfristigkeit, Initiative).
Real Life Assessment
Vorbereitete Settings und erwartbare Situationen sind angenehm, aber oft nicht ausreichend aufschlussreich. Interessant wird es vor allem, wenn – auch im Auswahlprozess – etwas nicht nach Plan läuft bzw. spontane Reaktionen erforderlich sind. Business Cases, Präsentationen, Diskussionen etc. sind besonders geeignete Formate mit der notwendigen Akzeptanz, um weitere Aufschlüsse zu liefern.
Team Effort
Auswahlqualität resultiert auch aus Team-Effort. Das richtige Gremium an Entscheidern ist wesentlich. Hier werden unterschiedliche Sichtweisen konstruktiv diskutiert und mit den Prioritäten kalibriert. Verschiedene Rollen (Moderator, Interviewer, Beobachter) haben unterschiedliche Schwerpunkte in der Wahrnehmung. Auf diese Vielfalt zu verzichten, bedeutet zwangsläufig einen Verlust an Entscheidungsqualität.
So proof me wrong, please!
Der aus einem positiven Zugang zu Menschen im Allgemeinen resultierende Vertrauensvorschuss ist für mich wesentlich für eine tragfähige Interaktion mit meinem Gegenüber. Im weiteren Verlauf der Gespräche gilt: Der Versuch, diesen zu falsifizieren ist legitim und notwendig.
So schließt sich der Kreis: Kandidaten, die im Laufe eines Evaluierungsprozesses aus unterschiedlichen Gründen aus dem Relevant Set ausscheiden, sind ein Gewinn für die Auswahlentscheidung. Alle sparen sich Zeit und potentielle spätere Trennungsschmerzen.
Und für den Fall der Fälle?
Für uns als Personalberater gilt: Unsere eigene Fehlbarkeit zu minimieren mit dem Ziel, möglichst gute Entscheidungen zu ermöglichen. Mit dem Bewusstsein allerdings, dass wir es auf beiden Seiten mit Menschen zu tun haben. Und, dass Fehler auch zu Wachstum beitragen. Und weil das so ist, teilen wir mit unseren Auftraggebern für eine gewisse Zeit zumindest das kaufmännische Risiko einer notwendigen Nachsuche. Auf dieses Qualitätsmerkmal einer Premium-Personalberatung sollten Auftraggeber bei der Wahl des Partners in jedem Fall achten.
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