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AutorenbildJulian Maly

Das Paradoxon ab 55

Aktualisiert: 29. Mai 2023

Konfrontiert mit zunehmendem Aufwand in den Bereichen Personnel Attraction & Retention, wäre die Annahme naheliegend, dass Unternehmen verstärkt auf die beruflich längerfristig orientierte Generation der Arbeitnehmer ab 55 zurückgreifen und diese als Wissens- und Verantwortungsträger an entsprechend tragender Stelle in ihre Strukturen integrieren. Doch dies passiert kaum. Und so stellt sich die gesellschaftliche, insb. aber auch die ökonomische Frage, warum viele Arbeitgeber einem Reflex gleich dieses Potenzial bewusst ausklammern.


Meiner Erfahrung nach liegt dies in zwei groben Paradigmen begründet:


Der trügerische Schein

Vielen Personalern und Personalentscheidern ist die rasche und „reibungslose“ Integration neuer Mitarbeiter in die Workforce wichtig. Das Onboarding soll rasch und effizient sein. Potentielle Arbeitnehmer mit langjähriger Erfahrung in unterschiedlichen Umfeldern haben sich zumeist bereits ein Set an eigenen Vorstellungen von effektiver (Zusammen-)Arbeit in einer Organisation zurechtgelegt und greifen darauf zurück. Auch die weiter vorangeschrittene Persönlichkeitsentwicklung und die statistische Häufung von Kompetenzen wie langfristiges Denken, strategische Planung, Interessenausgleich, Durchsetzung des eigenen Standpunktes, kritisches Hinterfragen et al wirken im Vergleich zu juveniler can-do-Mentalität, Umsetzungsorientierung und digital-first-Mindset (zumindest kurzfristig) weniger attraktiv. Umso mehr in Zeiten, in denen wirtschaftlich „auf Sicht“ gefahren wird und die Berichtszyklen eher durch Wochenabstände gekennzeichnet sind. Auch wenn viele dieser schematischen Schubladisierungen tatsächlich zu beobachten sind, werde ich nicht müde, eine Lanze für die Diversität in Organisationen zu brechen, nicht aus sozialromantischen Gründen, sondern aus handfester Wirtschaftlichkeit. Denn die Kombination aus Kompetenzen, Sichtweisen, zeitlicher Orientierung etc. macht Teams erfolgreich. Häufig wird dies allerdings nicht als komplementäre Bereicherung, sondern als „Komplikation“ empfunden und somit ein Bias geschaffen, der sich leicht als Totschlagargument eignet - der trügerische Schein des „saturierten, unflexiblen und wenig digitalen Plus-Fünfundfünfzigers“.


Das tatsächliche Sein

Die andere Seite der Medaille ist die ebenso negative wie leider wahre Rechts- und Kostenproblematik. Vorangestellt - wir sind uns darüber einig, dass Altersdiskriminierung sowohl werte- als auch faktenbasiert einer Organisation schadet. So ist es insb. der rigide Umgang der Rechtsprechung mit Unternehmen hierzulande, die aus plausiblen, handfesten wirtschaftlichen oder in der jeweiligen Situation/Person gelegenen Gründen eine Trennung herbeiführen möchten, die diese vor der verstärkten Integration der Altersgruppe 55+ in die Workforce zurückschrecken lässt. Hartnäckig und belegbar ist die Frage „wie werde ich im Notfall die Person wieder los“ der große Elefant im Raum. Und somit wird aus dem (gut gemeinten) Kündigungs- ein verheerender Einstellungsschutz. Mindestens gleich zentral ist in vielen Fällen das Thema der Verdienstentwicklung auf Basis der numerischen Berufserfahrung. Nach wie vor kann niemand plausibel erklären, warum jemand mit längerer Arbeitserfahrung und geringerer Leistung (damit ist nicht ein aktionistischer, sondern ein bleibender Beitrag zum Unternehmenserfolg gemeint) in der Gehaltspyramide automatisch ein Premium erhalten soll. Das Argument des Lebensstandards bzw. bereits erarbeiteten Niveaus (das durch gesellschaftliche Ausgleichmechanismen theoretisch ebenfalls erreichbar wäre) ist aus meiner Sicht kein stichhaltiges, viel mehr sollte sich das Gehaltsniveau am Beitrag zum Unternehmenserfolg (und sei es in Form von Konstanz, Erfahrungsschatz und Know-how-Weitergabe) orientieren. In Zeiten explodierender Gehaltskosten und vielfacher Notwendigkeit Investitionen großer Tragweite infolge von Verwerfungen in etlichen Wirtschaftssektoren gilt mein Verständnis auch allen Unternehmen, für die eine drastische Überschreitung der Gehaltsbudgets ein rotes Tuch ist. Eine Neuordnung bzw. zumindest Abflachung der Lebensverdienstkurve würde darüber hinaus viele weitere gesellschaftliche Probleme adressieren - die Abhängigkeit des Lebensstandards von Jungfamilien und der Bildungsstandards deren Kinder von (nicht) vorhandener Unterstützung durch die Eltern- und Großelterngeneration zum Beispiel. Und nicht zuletzt eben auch die Bereitschaft der Unternehmen, der 55+ Generation eine echte Teilhabe und Entwicklung innerhalb der Strukturen zu ermöglichen inkl. aller Vorteile für beide Seiten. Solange also kulturell und durch die gesetzlichen bzw. rechtlichen Rahmenbedingungen kein besserer Ausgleich zwischen den Generationen geschaffen wird, bleibt eine vollständige, vorbehaltlose Integration älterer Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt Illusion und der „unverhältnismäßig teure, im Zweifel schwierig kündbare Plus-Fünfundfünfziger“ leider Realität.


Auch wenn es für derzeit Betroffene hart klingen mag, der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Kombination mit einer faktenbasierten Diskussion einer Neuordnung der Lebensverdienstkurven wäre eine einmalige Chance, Vorurteile abzubauen, Arbeitnehmer länger im Erwerbsleben zu halten und gleichzeitig die riesigen Potentiale generationenübergreifender, kompetenzbasierter Zusammenarbeit zu heben.



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