Bei Kandidateninterviews zählen Erfahrung und Fingerspitzengefühl
- Julian Maly
- 10. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
In der modernen Personalgewinnung genügen starre, standardisierte Prozesse längst nicht mehr. Kandidaten erwarten heute einen innovativen, pragmatischen Zugang – eine Interviewführung, die sowohl strukturiert als auch flexibel ist. Dieser Ansatz hebt sich bewusst von den altbekannten Frage-Antwort-Routinen und erst Recht vom Ansatz des investigativen, zurückgelehnten Headhunters ab. Er schafft stattdessen echten Dialog. Ein gut geführtes Interview ist informativ und meinungsstark: Es liefert belastbare Erkenntnisse und vermittelt zugleich eine empathische Haltung.
Struktur mit Sinn
Eine klare Struktur im Interview bietet Orientierung – sowohl für den Interviewer als auch für den Kandidaten. Für uns hat sich vor allem das semi-strukturierte Interview bewährt. Hierbei folgt das Gespräch einem Leitfaden, der wichtige Themen und Fragen vorgibt, lässt aber Raum für Vertiefungen und spontane Nachfragen:
Roter Faden statt Korsett: Anders als ein voll durchstandardisiertes Gespräch, das jedem Kandidaten exakt die gleichen Fragen in gleicher Reihenfolge stellt, erlaubt das semi-strukturierte Vorgehen, individuell auf Antworten einzugehen. Man hält sich grob an den Leitfaden, weicht aber ab, wenn interessante Aspekte auftauchen. So kombiniert man Vergleichbarkeit mit Flexibilität.
Verlässliche Phasen: Typischerweise beginnt ein solches Interview mit einer Aufwärmphase (z. B. kurzer Austausch über den Werdegang), gefolgt von Kernfragen zu Erfahrungen, Kompetenzen und Persönlichkeit. Am Ende stehen oft offene Punkte und die Möglichkeit für den Kandidaten, eigene Fragen zu stellen. Diese Struktur stellt sicher, dass alle relevanten Bereiche abgedeckt werden, ohne das Gespräch zu starr wirken zu lassen.
Durch einen semi-strukturierten Aufbau wird ein Rahmen geschaffen, der Professionalität ausstrahlt, aber nicht verkrampft wirkt. Kandidat:innen spüren, dass der Gesprächspartner Wert auf objektive, vergleichbare Kriterien legt, sich aber dennoch für die individuelle Person interessiert. Das schafft Vertrauen und zeigt gleichzeitig, dass man es mit einer durchdachten, aber modernen Interviewkultur zu tun hat.
Flexibilität in der Gesprächsführung
Selbst der beste Leitfaden nützt wenig, wenn man als Interviewer nicht flexibel reagiert. Notwendige Flexibilität bedeutet: auf Unerwartetes eingehen, Antworten hinterfragen und das Gespräch in die Tiefe führen, ohne den roten Faden zu verlieren:
Situativ anpassen: In einem modernen Jobinterview darf der Interviewer durchaus improvisieren. Wenn ein Kandidat beispielsweise ein spannendes Projekt erwähnt, sollte man tiefer nachhaken – auch wenn es nicht 1:1 im Fragenkatalog steht. Diese situativen Vertiefungen liefern oft die wertvollsten Erkenntnisse über Arbeitsstil, Problemlösungsfähigkeit oder Führungsverhalten des Kandidaten. Entscheidend ist, dabei immer den Bezug zu den vordefinierten Anforderungskriterien zu behalten, damit das Gespräch zielgerichtet bleibt.
Balance zwischen Struktur und Spontaneität: Flexibilität bedeutet nicht Chaos. Es geht darum, im Moment zuzuhören und zu entscheiden, welche Spur man aufnimmt. Erfahrene Interviewer haben ein Gespür dafür, an welchen Äußerungen des Bewerbers sie anknüpfen und wo sie besser zum nächsten Thema überleiten. Gerade bei Top-Level-Positionen, wo jeder Kandidat einzigartig ist, zahlt sich diese individuelle Gesprächsführung aus. Sie unterscheidet den pragmatischen Headhunter vom starr prozessorientierten Ausfrager.
Mit dieser Flexibilität zeigt der Interviewer auch Wertschätzung: Er signalisiert dem Kandidaten, dass er als Person ernst genommen wird und nicht nur ein weiterer Name auf der Liste ist. Das fördert Offenheit und Ehrlichkeit im Gespräch – unbezahlbar, wo es um Feinheiten der Eignung geht.
Biographisch, verhaltensorientiert, anforderungsbezogen
Die Qualität der Fragen entscheidet über die Tiefe der Erkenntnisse. Erfolgreiche Interviews kombinieren daher mehrere Fragetechniken, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten:
Biographische Fragen: Hier folgt das Gespräch dem Lebenslauf des Kandidaten als rotem Faden. Man bittet z. B. darum, den Werdegang zu schildern und gezielt auf Schlüsselerlebnisse einzugehen. Biographische Fragen sind offen und erlauben dem Kandidaten, Zusammenhänge in seiner Karriere selbst darzustellen. Der Interviewer hört dabei auf Muster, Motivation und Werte, die sich aus der Geschichte herauskristallisieren.
Verhaltensorientierte Fragen (Behavioural Interview): Nach dem Motto “Vergangenes Verhalten ist ein Prädiktor für zukünftiges Verhalten”, bittet man den Kandidaten, konkrete Situationen aus der Vergangenheit zu schildern. Solche Fragen zielen darauf ab, Kompetenzen in Aktion zu sehen – wie jemand Probleme löst, mit Konflikten umgeht oder Erfolge erzielt hat. Wichtig ist, gezielt nach Details zu fragen, um wirklich authentisches Verhalten herauszuarbeiten.
Anforderungsbezogene Fragen: Sie beziehen sich direkt auf das vordefinierte Kompetenzprofil der zu besetzenden Position. Jede Rolle hat Schlüsselkriterien – seien es strategische Fähigkeiten, Innovationsgeist oder Kundenorientierung. Anforderungsbezogene Fragen knüpfen eng an diese Kriterien an. Hier zeigt sich, ob der Kandidat zielgerichtet und praxisnah antworten kann. Diese Technik stellt sicher, dass neben der Persönlichkeit auch die fachliche Passung und methodische Kompetenz beleuchtet werden.
Ein gelungenes Interview wechselt fließend zwischen diesen Fragearten. Dieser Methodenmix – biographisch, verhaltens- und anforderungsorientiert – ist Kern unseres Ansatzes in der Kandidatenevaluierung. So stellen wir sicher, dass wir Persönlichkeit, Motivation und Fähigkeiten des Kandidaten ebenso beleuchten wie die im Anforderungsprofil beschriebenen Dimensionen. Wir ergründen Sichtweisen und Werte sowie Ambitionen und Ziele der Kandidaten, um ein wirklich ganzheitliches Bild zu erhalten.
Vertrauensvolle und professionelle Atmosphäre
Spitzenkandidaten haben meist mehrere Optionen. Umso wichtiger ist es, schon im Interview eine vertrauensvolle, professionelle Atmosphäre zu schaffen, in der sich Kandidaten wohlfühlen und offen sprechen. Darüber hinaus erhält man so auch die authentischsten Ergebnisse:
Dialog auf Augenhöhe: Anstatt ein Frage-Antwort-Verhör zu inszenieren, sollte das Gespräch eher wie ein professioneller Dialog wirken. Das heißt z. B. mit auflockernden Einstiegsfragen beginnen, auf Gemeinsamkeiten eingehen oder auch einmal eigene Erfahrungen teilen. Dadurch entsteht eine persönliche Verbindung, die Vertrauen fördert.
In Vorleistung gehen: Wenn vor dem Interview wenig über den Auftraggeber des Headhunters bekannt ist oder Kandidaten besonders nervös ins Interview starten, bietet sich als Einstieg eine Schilderung des Unternehmens bzw. der Rolle im Detail an.
Neutral und ungestört: Die Umgebung beeinflusst die Atmosphäre enorm. Ein neutraler, ungestörter Raum ohne Hektik ist ideal. Oft macht es sogar Sinn, das erste Gespräch außerhalb des Büros zu führen – etwa in einer ruhigen Lounge oder via Video in entspannter Atmosphäre. Wichtig ist, dass Diskretion gewährleistet ist (gerade bei wechselwilligen Executives) und der Kandidat sich respektiert und ernst genommen fühlt.
Aktives Zuhören und Empathie: Vertrauen entsteht, wenn der Kandidat merkt, dass man wirklich zuhört. Blickkontakt, Nicken, Nachfragen – all das signalisiert: "Ihre Geschichte ist wichtig." Professionell bleibt das Gespräch, indem der Interviewer die Gesprächsführung in der Hand behält, also beim Abschweifen sanft zurück zum Thema steuert. Empathie heißt auch, mal zwischen den Zeilen zu hören: Worauf ist der Kandidat stolz? Was bereitet ihm Sorgen? Diese Dinge anzusprechen zeugt von Interesse an der Person und schafft eine Atmosphäre, in der ehrliche Antworten gedeihen.
Eine vertrauensvolle Atmosphäre ist kein "Soft-Faktor", sondern entscheidend, um an belastbare Informationen zu kommen. Nur wenn sich Kandidaten im Gespräch sicher fühlen, geben sie wirklich tiefe Einblicke – sei es in eigene Fehler, wahre Karriereziele oder mögliche Bedenken. Genau diese Offenheit macht später den Unterschied bei der Besetzung einer Schlüsselposition.
Transparente Kommunikation der nächsten Schritte
Nichts verunsichert Kandidaten mehr, als nach einem Interview im Dunkeln zu tappen. Transparenz im Prozess ist daher ein Muss – und zwar von Anfang an. Eine klare Kommunikation darüber, wie es nach dem Gespräch weitergeht, zeugt von Professionalität und Respekt:
Fahrplan offenlegen: Idealerweise erläutert der Interviewer bereits zum Abschluss des ersten Gesprächs den groben Fahrplan des weiteren Prozesses. Diese Offenheit nimmt Nervosität und schafft Vertrauen in den Prozess.
Nächste Schritte und Timeline: Wichtig sind konkrete Angaben: Wie viele Runden sind geplant? Kommt ein Assessment oder Hearing auf den Kandidaten zu? Wer wird die nächsten Gesprächspartner sein? Und vor allem: Wann kann der Kandidat mit einer Rückmeldung rechnen? Realistische Zeitangaben und regelmäßige Status-Updates halten die Motivation hoch. Nichts ist schlimmer, als Top-Talente durch mangelnde Kommunikation an die Konkurrenz zu verlieren.
Offene Fragen klären: Transparenz heißt auch, Raum für Fragen zu lassen. Ein Top-Kandidat, der sich eventuell verändern will, hat viele Überlegungen – zur Firmenkultur, zum Vertrag, zu den Erwartungen im neuen Job. Hier ehrlich Auskunft zu geben (soweit möglich) oder zumindest den weiteren Klärungsprozess aufzuzeigen, stärkt die Candidate Experience enorm. Kandidaten schätzen es, wenn sie wissen, woran sie sind, und fühlen sich als Partner auf Augenhöhe im Auswahlprozess.
Durch transparente Kommunikation der nächsten Schritte zeigt die Personalberatung, dass sie nichts zu verbergen hat und den Kandidaten als mündigen Entscheider respektiert. Das Ergebnis: Beide Seiten begegnen sich mit realistischen Erwartungen – die Basis für eine langfristig erfolgreiche Zusammenarbeit.
Wie viele Runden? Qualität vor Quantität
Mehr Gesprächsrunden bedeuten nicht automatisch bessere Entscheidungen. Entscheidend ist eine sinnvolle Taktung der Interviews – genug, um den Kandidaten umfassend kennenzulernen, aber nicht so viele, dass der Prozess unnötig zäh wird. Unser Ansatz: Qualität vor Quantität und jede Runde mit klarem Zweck.
Typischerweise hat sich auch in Abstimmung mit den Auftraggebern ein mehrstufiger Prozess bewährt:
Erstgespräch (Screening): Ein erstes, meist halbstrukturiertes Interview, oft noch relativ offen gehalten, dient dem gegenseitigen Beschnuppern. Hier prüfen wir Grundlagen: Motivation für den Wechsel, grobe Passung zur Position, Auftreten und kommunikative Fähigkeiten. Auch der Kandidat gewinnt einen Eindruck von uns und der Rolle.
Zweitgespräch (Vertiefung): Hier geht es ins Detail. Dieser Termin wird oft mit einem oder mehreren Fachentscheider:innen des Auftraggebers durchgeführt. Schwerpunkte sind konkrete Fach- und Führungsfragen, Diskussion von Strategie- oder Case-Beispielen und tiefergehende Erörterung der Kulturfragen. Manchmal fließt hier bereits ein Einzel-Assessment ein – etwa ein Testing oder eine Case Study, die der Kandidat präsentiert. Ziel: ein möglichst realistisches Bild von der Arbeitsweise und Expertise der Person zu erhalten.
Finale Runde (Hearing): Für Top-Positionen hat sich ein Hearing bewährt. Dabei präsentiert sich der Kandidat vor einem Gremium (z. B. Vorstand, Beirat) und bearbeitet oft eine vorab gestellte Aufgabe oder Fallstudie. In diesem Schritt werden die besten Kandidaten noch einmal auf Herz und Nieren geprüft, auch im direkten Vergleich. Das Hearing ist meist formeller und panelartig, um die Entscheidungsgrundlage für alle Stakeholder zu liefern. Wichtig ist, dass die Kandidaten gut vorbereitet ins Hearing gehen – wir als Beratende sorgen durch Briefing und Feedback dafür.
In Summe sind für eine Executive-Position in der Regel zwei bis drei Interviewrunden üblich. Mehr sollten es nur werden, wenn wirklich notwendig, denn jede zusätzliche Runde bedeutet Aufwand und kann Top-Kandidat:innen auch abschrecken, wenn der Prozess zu lange dauert. Ein schlanker, aber sorgfältiger Prozess mit klar definierten Schritten ist daher ideal. So demonstrieren wir Effizienz und Gründlichkeit – beides wird von unseren Auftraggebern wie Kandidaten geschätzt.

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